16. August 2015
Die geneigte Autorin behält sich vor, in diesem Post ihre Gedanken annähernd schmuckfrei schweifen zu lassen. Denn: in diesem Jahr bin ich 45 geworden. Das kann man sich ruhig einmal genüsslich auf der Zunge zergehen lassen.
Irgendwie heißt diese Zahl ja, dass (euphemistisch betrachtet) die Hälfte meiner Zeit auf Erden verstrichen ist. Und zwar die gute Hälfte. Die zweite Hälfte ist die, wo man insgesamt körperlich schwächelt und am Ende wenig Lust auf wenig hat (wenn ich der Berichterstattung derjenigen Glauben schenke, die sich der Zielgeraden nähern).
Neben einem leisen Seufzen ob dieser Tatsache gibt es jede Menge über das älter werden zu berichten. Nachteil: man ist nicht mehr so fit und Sport ist gleichzeitig anstrengender und weniger leistungsaffin. Ja, die Haut wird trocken und wellig und die Linien in meinem Gesicht und am Hals veranstalten merkwürdiges. Vorteil: man ist deutlich tiefenentspannter als in jungen Jahren.
Letztes Jahr habe ich meinem Kreativblog Edna Mo gestartet und fühle mich zwischenzeitlich pudelwohl mit meinem selbstgeschaffenen Alter Ego und dem, was es mit mir anstellt. Diese Edna, das Teufelsweib, bringt mich dazu, ziemlich viel verrücktes Zeug auszuprobieren. Nicht nachdenken, einfach machen. Seitdem fühle ich mich wie im CERN Teilchenbeschleuniger, und werde infolge kausaler Zusammenhänge auf immer neue Etappenziele zugeschleudert. Eigentlich stehe ich die ganze Zeit mit offenem Mund neben mir und bin sprachlos, was ich alles anzetteln tu. Und bestimmt ist an allem nur dieser Blog schuld!
Beispielsweise ist es dem älter werden geschuldet, dass ich mich für den Blog neuerdings auch vor die Kamera stelle. Nachdem mir dieses Verlangen aufgefallen ist, wollte ich der Ursache gern auf den Grund gehen. Ich bin wohl schlicht neugierig, wie das mit dem Altern so vor sich geht und was es an mir verändert. (Übrigens bin ich da nicht einsam unterwegs, wie eine Recherche der Ü40-Blogs, ja so heißt diese Kategorie, ergeben hat)
Das bin also ich mit 45. Es gibt auf dieser Welt sicher genug zu viele Darstellungen wohlgeratener Erdenbürger. Aber jenseits der optischen Dreißig verschwindet die Menschheit wortwörtlich "von der Bildfläche". Dabei sind das rein mathematisch betrachtet ganz schön viele. Herrje - ich gehöre jetzt auch irgendwie dazu. In die Kaste der "optisch Unwerten".
Aber: es gibt absolut keinen Grund, sich nicht fotografisch zur Heldin seiner eigenen Geschichte zu machen. Oder anders gesagt: es hat noch nie geschadet, ein wenig Nabelschau zu betreiben.
Und ich bin die Zirkussensation "Die Frau ohne Unterleib"!
Mütterlicherseits bin ich mit einem ausgeprägtem Hüftdrall ausgestattet. Mit zunehmender fotografischer Selbstbetrachtung rückt so eine ignorierte Kehrseite wieder verstärkt in den Aufmerksamkeitssensor. Und siehe da, live und in Farbe: da ist wohl etwas "aus dem Leim gegangen". Und so gibt es Körperteile, die fotografisch dokumentiert, dann einer ewigen Zensur zum Opfer fallen.
Komisch, selber sehe ich mich (natürlich noch als das junge Reh, das mit wehender Stirnlocke über die Wiese springt) gar nicht so herb und matronenhaft, wie ich mir auf vielen Bildern vorkomme.
Einer der Nachteile an den über 40 Lenzen: der Stoffwechsel lässt sich nicht mehr so leicht auf Trab bringen wie früher. Zwei Tage sparsam Salat essen und direkt ein Kilo weniger - das hat vor 10 Jahren vielleicht noch geklappt. Jetzt klammert sich jedes einmal angeschwemmte Gramm an meine Hüften wie ein ertrinkender Flüchtling an seine Schlepperschaluppe.
Und jetzt kommt wieder etwas Schönes am älter werden: es gibt Dinge, die an Bedeutung verlieren, bei mir ist das beispielsweise (eigentlich müsste ich sagen: glücklicherweise) das Essen. Eigentlich ist es sogar noch schlimmer: neben der Mär von Wohlstand, Jugend und Schönheit, den unsere Industrienation als erstrebenswert formuliert, geht mir der Food-Hype sogar noch mehr auf den Keks.
Meine Güte, was essen wir bloß jeden Tag!
In einem Drittweltland würde ich für eine Kartoffel töten. Hier stehe ich vor 15 Metern Joghurtregal und kann mich zwischen -zig Geschmacksrichtungen nicht entscheiden.
Und sind wir mal ehrlich: haben wir nicht einfach zu viel Zeit und zu viel Geld und dann auch noch permanent das Gefühl, dass wir uns alleine schon fürs Atmen belohnen müssen???
Es ist ein Fluch unserer (Erst-) Welt, dass wir uneingeschränkten Zugang zu hochkalorischen Lebensmitteln haben. Und Hand aufs Herz: wer von euch hat bei der letzten Aufforderung, fürs Buffet "was" mitzubringen, einen Erdbeerquark gemacht?
Ich zähle nicht viele Wortmeldungen. Die Latte liegt wenigstens auf der Höhe einer Schüssel Bacon Jam. Oder einer Fünfschicht-Pavlova. Und wenn man nicht Lilliputaner-Feigen mit pomadisierten Pinienkernen an geklöppelter Schokomousse reicht, hat man sich ja direkt als Genussverächter, Vollpfosten, einkommensschwach oder essgestört geoutet.
Die Wertschätzung von schlichten Genüssen ist wohl irgendwie verloren gegangen.
Je länger ich darüber nachdenke, wie schizophren die Zusammenhänge unserer neuzeitlichen Wertvorstellungen sind, gemäß derer man bitteschön nonstop konsumieren soll und gleichzeitig an Leib und Seele integer zu bleiben hat, desto weniger Lust habe ich aufs Mitspielen.
Hammerding, das mit dem älter werden. Früher wollte ich immer "dazu gehören". Und jetzt gibt es nichts, was ich weniger erstrebenswert finde. Hat mich am Ende doch der gesunde Menschenverstand eingeholt? Oder rette ich mich da nur in eine ältere-Damen-Verschwörungstheorie?
Kurzum: Essen ist an und für sich nützlich, aber eigentlich kein Grund zum Ausrasten.
Anders ist es bei der Kreativität: da sollte man sich hemmungslos hingeben!
Aber: bei fast keinem DIY-Blog geht es nicht auch um die Zubereitung von Nahrungsmitteln.
Selbst die Plattform handmadekultur.de wird in manchen Monaten zu gefühlt 80 % von Kochrezepten dominiert. Ja, Nahrungszubereitung ist in vielen Fällen natürlich "handgemacht", aber eigentlich kommt "handgemacht" doch vom "Handwerk" und nicht von "Hauswirtschaft". Da scheint wohl eine monströse, kollektive Verwirrung vorzuliegen.
Jetzt spreche ich es einmal aus: mein Besuch auf der Creativa Bastel- und Kreativmesse in Dortmund im März war für mich so nachhaltig, weil ich noch nie so viele Übergewichtige auf einem Fleck erlebt habe. Fälschlicherweise dachte ich, dass ich lauter Edna Mos treffe.
Es muss also eine nachweisliche Verbindung zwischen Kreativität und Nahrungsaufnahme geben. Welche das sein könnten, beschäftigt mich deshalb, weil mir die Zusammenhänge gänzlich fremd sind. Und weil ich mir auf der Veranstaltung so absolut fehl am Platz vorkam.
Szenario 1: Möglicherweise ist Kochen und Backen aus den Niederungen der Hausarbeit zu kreativer Tätigkeit per exellence avanciert und schlägt andere handwerkliche Disziplinen um Längen. Leider ist aber die Tatsache, dass man abwechslungsreich kocht oder backt, kein Grund fürs Zupfunden. Fatal ist nur das nachgelagerte Verzehren der zubereiteten Speisen - was wiederum aber nix mit Kreativität zu tun hat. Ist die betont "kreative" Nahrungszubereitung also nur eine ganz heimliche Ausrede für unverbesserliche Schleckermäulchen?
Szenario 2: Mit "Basteln" und "Handarbeit" hat man gute Gründe, um sich häuslich zurückzuziehen: in den eigenen vier Wänden bleiben, fernab der bösen Welt, in der Nähe von Herd und Kühlschrank, Cocooning in Reinform, unbeobachtet, (allein?). Und wenn Geist und Hände permanent beschäftigt sind, besteht vielleicht auch keine Gefahr, sich durch einen möglichen Anflug von Selbstreflektion das Leben schwer zu machen.
Aber: Um auf die Creativa-Messe wie nach Lourdes zu pilgern, war der Anreiz offensichtlich groß genug, die sichere Burg zu verlassen. Obwohl: da war man ja "unter seinesgleichen".
Szenario 3: Handarbeitsaffine neigen überhaupt nicht zu Korpulenz, es handelt sich um einen puren sowie fehlgeleiteten Zufall, dass dieser Eindruck bei mir entstanden ist.
Und jetzt wieder was weniger schönes am älter werden: ich neige ja zu intervallmäßig heftig auftretender Müdigkeit, seitdem ich die 40 überschritten habe. Ein Schnitzel oder ein Glas Rotwein verstärken dieses Effekt leider so extrem, dass ich dann zu keiner Regung mehr fähig bin. Ganz schlecht, um die Hand ans kreative Werk zu legen.
Kreativität ist für mich in der Tat a) körperliche und geistige Arbeit, die b) idealerweise ausgeführt wird, wenn sich die Energiereserven noch im mittleren Bereich befinden, respektive das Blut im Gehirn zirkuliert und nicht im Verdauungstrakt. Und c) Solange meine Handschuhe in Giessharz/ Bohrstaub / Schleifabrieb/ Polierwachs / Klebstoff getaucht sind, kann ich unmöglich gleichzeitig Chips essen.
Die Tätigkeitsbegriffe "Basteln" und "Handarbeit" im Bezug auf meine kreative Arbeit werde ich nach dieser Erkenntnis wohl nicht mehr so locker-flockig in den Mund nehmen können. Nur noch zur Tarnung, wenn ich über meine handwerklichen Fähigkeiten und kreative Absichten hinwegtäuschen möchte. "Ja ich bastel so Schmuck und mach auch Perlen selber."
Und jetzt kommt eine zentrale ich-werde-älter-Erkenntnis, ausgelöst durch die Überlegungen vorher: Vielleicht wäre ich längst rund und mopsig, wenn mich der Harz-Schmuck nicht gefunden hätte. Oder anders: Wenn ich die gleiche Liebe, Zeit und Geld, die ich für das Harzen aufwende, in die Zubereitung und das Verzehren von hochkomplizierten Speisen bündeln würde, wäre ich wahrscheinlich an meinem Übergewicht gestorben.
Oder: ich würde gar nicht kreativ arbeiten, sondern nur wie verrückt lesen (ich bin ganz versessen auf Bücher) und gleichzeitig saures Gummizeug in mich reinstopfen (meine heimliche Schwäche, zumindest bis ungefähr Mitte Dreißig). Das geht nämlich ganz hervorragend gleichzeitig, und am allerbestem im Liegen. Aber komischerweise hat sich diese Neurose mit dem Erscheinen der Harzgöttin komplett geändert.
Und dann das: nicht nur, dass ich am Liebsten nonstop kreativ werkeln würde, dann schaffe ich mir auch noch so ein Blogdings an, wo ich das Gewerkelte einer fotografischen nonstop-Beurteilung unterziehe. Die wiederum in neuen Aktivitäten und weiterem kreativen Output gipfelt. Ich hätte nie geahnt, dass die blogosphärische Selbstreflektion so eine Sogwirkung entfalten könnte.
Und jetzt sitze ich hier, mit Laptop-Kamera-Stativ-Kabelsalat, über mich in mikroskopischer Selbstbetrachtung, und gebe mich lustvoll dem sich Bahn brechenden Wunsch nach konspirativer Selbstgestaltung hin. Himmel, was wär mein Leben ohne das alles lahm. Ich würde mich wahrscheinlich ziemlich mit mir langweilen.
Viele andere ziehen vielleicht nicht so ein große Erfüllung aus dem, was ihre Hände hervorbringen. Lucky me! Und vielleicht achte ich anders auf mich, weil ich das, was ich gerne tue, noch ein bißchen tun will.
Daher zur Feier des Tages: garantiert photoshop-freie Fotos von der von der Göttin geküssten Edna Mo (rein zufällig identisch mit der Autorin dieses Eintrags), mit hundertprozent 45-jähriger Reifezeit.
Mein innerer Teilchenbeschleuniger zwingt mich, dieses merkwürdige (neue? alte?) Ich zu dokumentieren. Zum Nachschlagen, für spätere Zeiten. Man weiß ja nie, wozu es gut ist.
In diesem Sinne, liebe Leserinnen und Leser, werde ich solange fotografisch meinen Falten auf den Grund gehen, bis mir wieder was anderes zum Reinstürzen vor die Flinte kommt. Vielleicht kommt ja auch irgendwann erstmalig mein Unterleib aufs Bild. Das wars dann mit meiner Zirkuskarriere.
Und falls es einer wissen will: in 20 Jahren möchte ich gerne in einem pinkfarbenen Overall und Sneakers und natürlich mit Schmuck behangen wie ein Christbaum durch die Straßen flanieren (vielleicht noch gut zu Fuß, wenn Sport und sparsame Ernährung mir erhalten bleiben) und die Dorf-Bevölkerung erschrecken. Hinter vorgehaltener Hand werden alle murmeln "Bloß weg hier, da kommt wieder diese verrückte Alte".
Ich glaube, dann habe ich alles richtig gemacht. Das wird ein Spaß!